Wo ist denn die Sonne geblieben?

Oder: Warum stimmt der Wetterbericht mal wieder nicht?

Ring, ring… ring, ring. Das Telefon bimmelt. Ich sitze an meinem Schreibtisch im Büro und nehme den Hörer ab: „Deutscher Wetterdienst, Lisa Brunnbauer“. Eine männliche, etwas raue, tiefe Stimme meldet sich: „Ja, hallo. Ich hätte eine Frage zum Wetterfax, bin ich bei Ihnen richtig?“. Der Mann am anderen Ende der Leitung klingt etwas aufgewühlt und hektisch. Ich antworte in ruhigem Ton: „Ja, Sie können mir gerne Fragen zum Wetterfax stellen. Worum geht es denn?“ Der Mann erklärt mir, er sei Landwirt in der Nähe von Offenburg am Rhein  und langjähriger Kunde des Wetterfaxes. Sein Anliegen habe aber diesmal nichts mit der Landwirtschaft zu tun. Er hatte zunächst vor am selbigen Tag Fotos zu schießen, und zwar bei strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel. Wenn er aber nun einen Blick aus dem Fenster wirft, sei der Himmel mit zahlreichen Wolken überzogen und die Sonne lugt nur ab und zu mal hervor. Ganz entrüstet fragt er mich: „Wo ist denn die Sonne geblieben, die Sie mir gestern im Wetterbericht versprochen haben? Der Wetterbericht hat nicht gestimmt!“

In Geschäften, in Kaffees, in Bus und Bahn lausche ich mehr oder weniger unfreiwillig den Diskussionen über das Wetter und die Wettervorhersage. Ein Schmunzeln kann ich mir dabei manchmal nur schwer verkneifen. Nicht selten muss ich mir auch auf die Zunge beißen, um mich nicht in die Gespräche fremder Leute einzumischen. Aber als Meteorologe würde man den Menschen gerne erklären, warum der Wetterbericht mal wieder nicht stimmte.

Bis der fertige Wetterbericht in die Zeitung, ins Radio, Internet oder Fernsehen kommt, sind zahlreiche Schritte nötig. In diesem längeren Entstehungsprozess gibt es zahlreiche „Stolperfallen“, also eine recht große Anzahl von möglichen Fehlerquellen. Ob ein Bericht scheinbar stimmt oder nicht, hängt aber nicht nur vom Bericht selbst ab, sondern auch von demjenigen der ihn liest bzw. hört. Um die Sache nicht zu verkomplizieren, wollen wir uns im Folgenden auf Berichte in Textform beschränken.

Beginnen wir ganz von vorne, bei der Erstellung des Wetterberichts. Wir machen ein Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie müssten das Wetter der letzten drei Tage als Text verfassen. Oder vielleicht besser: zunächst nur den gestrigen Tag. Jeder hört oder liest fast täglich Wetterberichte, also sollte diese Übung doch ein Leichtes sein. Der eine oder andere wird nun schnell auf Schwierigkeiten stoßen. Wenn es sich nicht gerade um einen stahlblauen Himmel unter Hochdruckeinfluss handelte, wird es mit der Beschreibung, zum Beispiel der Bewölkung, schon schwieriger. Versuchen Sie es mal! Wie viele Wolken gab es? Wie lange schien die Sonne? Gab es Regen? Den ganzen Tag? Hat es geschüttet?

Als Meteorologe im Vorhersagedienst muss man zu Beginn seiner Arbeitskarriere quasi erst einmal wieder Vokabeln büffeln: „Wetter-Vokabeln“. Damit man das Wetter, dessen Zustand und zukünftigen Verlauf richtig beschreiben kann, braucht man eine Reihe verschiedenster „Füllwörter“, in der Regel Adjektive und Adverbien. Zum einen weil das Wetter sehr vielfältig ist, zum anderen weil aus Gründen der besseren Lesbarkeit, nicht in jedem zweiten Satz das gleiche Wort verwendet werden sollte. Da mit einem Wetterbericht aber in erster Linie keine Literaturpreise gewonnen werden sollen, sondern der Inhalt möglichst stimmen muss, lassen sich Wortwiederholungen, je nach Wetterlage, nicht völlig vermeiden.

Zur Beschreibung eines Wetterzustands können offizielle Klassifizierungen dienen. Diese werden zum Beispiel beim Flugwetterdienst verwendet. Damit kann man sie international einheitlich anwenden. Nehmen wir die Bewölkung als Beispiel. Hier gibt es Begriffe wie „heiter“, „leicht bewölkt“, „stark bewölkt“ oder „bedeckt“, die jeweils den Anteil der Gesamtbedeckung des Himmels widerspiegeln. Oft bedient sich der Meteorologe aber auch der gängigen Umgangsprache oder weist auf Wolkenarten hin: „viele Wolken“, „dichte Wolken“, „Schleierwolken“, „Quellwolken“. Die einzelnen Leser kennen aber Definitionen nicht oder stellen sich dabei jeweils ein anderes Himmelsbild vor.

Nun wird mit diesen Ausdrücken aber lediglich das Wetterelement zu einem bestimmten Zeitpunkt beschrieben. Die räumlichen Unterschiede sowie der zeitliche Verlauf sind noch nicht erfasst. Oft gelten Adjektive und Adverbien sowohl für eine räumliche als auch eine zeitliche Änderungen gleichzeitig. Sie unterscheiden sich häufig in kleinen, aber entscheidenden Details! Vielen Lesern eines Berichtes sind diese Unterschiede gar nicht bewusst. Ein Meteorologe zerbricht sich hingegen unter Umständen den Kopf darüber. Für ihn macht es einen Unterschied, ob Schauer vereinzelt, stellenweise, örtlich, gebietsweise oder verbreitet auftreten, ob Schauer häufig, selten, kaum oder wiederholt auftauchen.

Bei der Bewertung eines Berichts kommt noch eine persönliche Erwartungshaltung hinzu. Heißt es im Bericht: „Heute gibt es kaum Schauer, in den meisten Regionen bleibt es trocken.“ Oft wird die Richtigkeit des Berichts von subjektiven Eindrücken bestimmt. Zur Verdeutlichung, folgen hier ein paar Beispiele. Derjenige, der morgens einen Regenschirm mit zur Arbeit nimmt und ihn in der Mittagspause beim Gang in die Kantine auspackt, wird zufrieden zu seinen Arbeitskollegen sagen: „Regen hat der Wetterbericht heute morgen im Radio schon gemeldet.“  Derjenige, der keinen Schirm bei sich trägt, wird vielleicht schimpfen, dass der Wetterbericht mal wieder nicht ganz richtig war, weil es doch „meist trocken“ bleiben sollte. So kann ein und derselbe Bericht gleichzeitig – je nach subjektivem Eindruck – als richtig oder falsch angesehen werden. Psychologen beschäftigen sich mit der recht komplexen Thematik dieser „Subjektiven Wahrnehmung“. So wird der „objektive“ Inhalt des Wetterberichts von unseren Erwartungen subjektiv gefiltert. Teilweise interpretieren wir beim Lesen eines Berichts Dinge hinein oder blenden Gelesenes aus, um so das „gewünschte“ Wetter zu erhalten. Lautet ein Bericht: „In den nächsten Tagen wechselnd bewölkt mit gelegentlichen sonnigen Abschnitten und einzelnen Schauer.“, wird ein Landwirt, der sehnlichst auf Heuwetter wartet, seinen Fokus auf die „sonnigen Abschnitte“ legen und auf trockenes, freundliches Wetter hoffen. Ein anderer Landwirt, dessen Getreide sich auf dem Acker zur selben Zeit in der Kornfüllungsphase befindet, wird auf Regen, also die „einzelnen Schauer“ sein Augenmerk lenken.

So viel zur Theorie. Tja, und da sitze ich nun in meinem Büro. Am Telefonhörer ist der etwas verärgerte Mann, der doch gerne heute Fotos im gleißenden Sonnenlicht gemacht hätte. Wie immer bei Telefonanfragen, werfe ich zunächst einen Blick auf das aktuelle Satellitenbild und sehe wie über das Rheintal eine Reihe von Wolkenfeldern zieht. Wolkenfelder, die ab und an einen Sonnenstrahl zulassen: wie gestern vorhergesagt! Der Landwirt fragt mich erneut: „Wo ist die Sonne geblieben, die Sie gestern vorhergesagt haben? Kriegen wir die heute noch?“ Ich antworte ihm mit ruhiger Stimme, dass die Prognose vom gestrigen Tag für seine Region doch absolut korrekt sei. Er entgegnet etwas ungehalten: „Sie haben gestern aber geschrieben, dass es sonnig sein wird“. Ich verneine: „Der Wetterbericht von gestern stimmt. Dass es sonnig werden würde, wurde nicht vorhergesagt“. Doch der Mann besteht vehement darauf: „Es sollte sonnig werden!“ Puh, ich weiß genau was ich geschrieben hatte, von „sonnig“ war nicht die Rede. Ich bitte den Mann das Wetterfax vom Vortag zu holen und mir am Telefon vorzulesen, was dort geschrieben steht. Ein Rascheln im Hörer, Stille und ein erneutes Rascheln. Der Mann hat den Bericht geholt. Er beginnt zu lesen: „Nachdem sich örtliche Frühnebelfelder aufgelöst haben, gibt es neben einigen dichteren Wolken gebietsweise auch längere freundliche Abschnitte mit Sonnenschein. Dabei bleibt es meist trocken.“ Stille am Telefon. Ich höre nichts mehr. Der Mann schweigt. Zögerlich beginnt er wieder zu sprechen: „Hm, von sonnig steht da tatsächlich nichts. Es tut mir leid. Irgendwie hatte ich das anders in Erinnerung. Merkwürdig.“ Ja, in diesem Moment war es für ihn merkwürdig. Für Sie ist es das, nach unserem Exkurs zur „subjektiven Bewertung zu Wetterberichten“, jetzt nicht mehr. Und auch der Mann am Telefon hat es nach einer kurzen Erläuterung meinerseits schnell verstanden und wir haben beide herzliche gelacht.     

[Dieser Artikel erschien 2014 in ähnlicher Form im Bayerischen Landwirtschaftlichen Wochenblatt]   

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