Den ganzen Tag hatte es geregnet gehabt. Den ersten Urlaubstag in Südtirol stellte ich mir etwas anders vor, aber die Wettervorhersage hatte leider Recht behalten. Zumindest war die Luft nicht völlig kalt und nachdem der Regen nun aufgehört hatte, war es auch noch etwas wärmer geworden. 14 Grad zeigte mein Fahrradcomputer in Sterzing. Ich begutachtete die Streckenänderung des diesjährigen Ötztaler Radmarathons. Die Änderung führt die Teilnehmer um Sterzing herum, bevor es nach dem Brenner zum dritten Pass, dem Jaufenpass geht. Da es nun mittlerweile später Nachmittag war, war mein Plan als Einstieg in eine Trainingswoche in Sterzing die Nord-Auffahrt des Jaufenpass zu erklimmen. Oben wird die Lufttemperatur einstellig sein. Ich hoffte, dass der Regen nicht wieder einsetzen wird. Dabei war es weniger das Nass von oben, das mich stört. Ich hatte eine Regenjacke und Helmüberzieher eingepackt sowie wasserabweisende Kleidung angezogen. Ein bisschen Frieren war auch nicht das Thema, aber von rutschigem Untergrund bin ich kein Fan.
Es war mein erster Berg, mein erster Pass seit 2 Jahren. Mir war irgendwie mulmig. Wie wird es mir ergehen? Normalerweise könnte mir die Form egal sein und nur der Spaß zählen, da ich aber einen Startplatz für den Ötztaler Radmarathon Ende August habe, ist ein Formaufbau wichtig. Im Sommer 2020 war der letzte Radurlaub mit Bergauffahrten gewesen. Damals fuhr ich das Stelvio Triple (Strava) an einem Tag und an den folgenden drei Tagen 10.000 Höhenmeter, also knapp 15.000 Höhenmeter in 4 Tagen. 2020 hatte ich meine Allzeit-Bestform und fuhr 200 Kilometer mit einem 30er-Schnitt im unteren Grundlagenbereich (Strava). Aber 2021 sah ich keinen einzigen Pass. Das im Januar 2021 geplante Trainingslager auf Gran Canaria wurde aufgrund von Covid abgeblasen und auch der Radurlaub im Mai wurde vom Veranstalter coronabedingt abgesagt. Meine Umfänge waren zwar auch 2021 ordentlich, aber hauptsächlich bestanden meine Einheiten aus lockerem Training und alles fand im Flachland oder auf der Rolle statt. Daher war ich gespannt was mein Körper mir nun für Signale senden würde. Ich fuhr in ruhigem Ausdauertempo den Jaufenpass weiter hinauf. Vorbei an einem großen Sporthotel und hatte einen Blick auf meinen Radcomputer, der mir meine Wattwerte und den Puls anzeigte. Watt und Puls sind von mehreren Faktoren abhängig und nicht 100 Prozent aussagekräftig, wenn man seinen Trainingszustand abbilden will, dennoch sind es Anhaltspunkte. Wie zu erwarten, lies meine Form im Vergleich zu 2020 zu wünschen übrig: höhere Herzfrequenz bei weniger Watt als 2020. Etwas anderes war auch nicht zu erwarten gewesen. Dennoch hätte ich deutlich mehr abbauen können. So kletterte ich weiter und fühlte mich unbeschreiblich gut dabei. Ein Hochgefühl endlich wieder in den Bergen zu sein! Als ich die Baumgrenze erreichte, pfiff ein ordentlicher Wind. Außer mir hatten sich nur noch eine Handvoll Motorradfahrer auf den Pass verirrt. Oben angekommen verschanzte ich mich vor dem eisigen Wind hinter einer der Hütten und zog rasch jegliche Kleidung an, die ich in meine große Satteltasche gepackt hatte. Mittlerweile bin ich immer öfter mit einer großen Satteltasche unterwegs, da ich es hasse Gegenstände und Kleidung in den Rückentaschen immer voll zu schwitzen und dann in der kalten Abfahrt klamme Klamotten am Körper zu tragen. Die Abfahrt war kalt und ich anschließend durchgefroren, so dass nur eine heiße Dusche half.
Von Sterzing aus lassen sich unmittelbar drei Pässe fahren. Der wohl bekannteste Pass ist der Brenner, wobei er von vielen Radfahrern aufgrund seiner geringen durchschnittlichen Steigung eher als „halber Pass“ angesehen wird. Das Penser Joch ist weniger bekannt, weniger befahren und der höchste der drei Pässe mit einer Passhöhe von 2211 Metern. Der Jaufenpass ist ganzjährig befahrbar. Der Winter setzt dem Teer jedoch besonders auf der kälteren Nordseite zu. Hier sind mitunter große Schlaglöcher und viele Längsrisse vorhanden, was die Abfahrt auf der Nordseite eher unangenehm zu fahren macht. Aufgrund der Bewaldung, sind im Licht und Dunkel Unebenheiten nur schwer erkennbar. Einige Stellen wurden bereits ausgebessert und eine neue Teerdecke aufgezogen, dennoch ist der Pass holprig. Die Südflanke des Jaufenpasses wurde – nicht auch zuletzt aufgrund des jährlich stattfindenden Ötztaler Radmarathons – schon gut ausgebessert. Die Einheimischen erzählten mir, dass von den Startgeldern wohl einiges in die Straßenerneuerung fließt. Am zweiten Tag stand der komplette Jaufenpass auf dem Programm, also beide Seiten. Die Temperatur war noch recht kühl, das Regenrisiko aber gering. Am Ende meiner Touren musste ich jeden Tag von Sterzing aus zum Schluss noch einige nicht wenig steile Höhenmeter zur Ferienwohnung in Obertelfes erklimmen. Normalerweise bin ich kein Fan davon, nach einer längeren Abfahrt, am Ende einer Tour nochmals Höhenmeter machen zu müssen. Dieses Mal machte mir das Bergauf zum Schluss hin merkwürdigerweise nichts aus. Noch bin ich mir nicht ganz sicher was der Grund dafür war, aber mit Sicherheit hatte die Schönheit der Landschaft eine Unterschied gemacht und ich kann den Standort Obertelfes weiterempfehlen. Das Wetter war am Wochenende – dem dritten und vierten Tag – nun sommerlich und es bestand kein Schauerrisiko. Am dritten Tag nahm ich mir einen Teil des Penser Jochs vor. Die Nordauffahrt des Penser Jochs ist durchweg steil und neu geteert. Die Südseite weist im oberen Bereich zweistellige Steigungs-Prozente auf und auch im unteren Bereich, dort warten auch einige unangenehme Tunnel. Dazwischen dümpelt der Anstieg bzw. das Gefälle vor sich hin. Ich persönlich hasse Anstiege mit wenigen einstelligen Prozenten. Es fühlt sich immer an, als würde man im Flachen fahren aber keine Geschwindigkeit erreichen. Für die bergauf-spezifische Muskulatur hat eine Steigung von unter 5 Prozent einen geringen Trainingseffekt. Daher beendete ich meine Fahrt südwärts im flachen, mittleren Teil der Südseite und kehrte um. Obwohl es ein Samstag war, war es erstaunlich ruhig und nur wenige Autos, Motor- und Fahrräder unterwegs. Dies war zum einen dem Penser Joch an sich geschuldet, das wie erwähnt weniger befahren ist als der benachbarte Jaufenpass. Ein zweiter Grund für das insgesamt verkehrsarme Wochenende dürfte die zeitliche Lage zwischen Pfingsten und dem folgenden langen Wochenende um Fronleichnam gewesen sein. Drittens fanden im Alpenraum einige größere Radveranstaltungen statt, so dass auch diese für die wenigen Rennradsportler mitverantwortlich waren. Das Wetter war traumhaft und für Montag kündigte sich eine Kaltfront mit Schauern und Gewittern an, so dass ich den Sonntag unbedingt nutzen wollte, um das Timmelsjoch zu erklimmen. Ich befürchtete viel Verkehr, aber wie bereits am Samstag, war es recht ruhig. Auf der Südseite des Jaufenpass war es heiß. Für die Abfahrt reichte eine Windweste aus. In St. Leonhard füllte ich meine Trinkflaschen, aß eine Kleinigkeit und startete den Anstieg zum Timmelsjoch. 35 Grad stand auf meinem Fahrradcomputer. Ich war so hingerissen von der Schönheit der Landschaft, dass ich die Anstrengung vergaß. Rund zweieinhalb Stunden dauerte es, bis ich die Passhöhe auf der Tiroler Seite erreichte. Ich freute mich auf die Abfahrt und gleichzeitig hatte ich – wie immer – ein flaues Gefühl im Magen. Dieses Gefühl des Respekts vor einer Abfahrt habe ich seit dem ersten Tag und obgleich ich immer einen Adrenalinschub nach wenigen Metern bergab bekomme, lässt mich das ängstliche Gefühl nicht los. Man sollte keine Abfahrt unterschätzen, ein Sturz passiert schnell und die Folgen bei den hohen Geschwindigkeiten können schlimm, wenn nicht sogar tödlich sein.
Am regnerischen Montag gab es für mich eine einsame Tour auf das Penser Joch nachdem der Regen am Abend weniger wurde. Belohnt wurde ich für eine Abfahrt ohne ein einziges Auto. Die letzten beiden Trainingstage gab es Sonnenschein und am Nachmittag einzelne Schauer und Gewitter, so dass ich meine Touren nicht zu lange ausdehnte. Ich fuhr jeweils über den Jaufenpass. Am Dienstag erklomm ich nochmals einen Teil des Timmelsjochs bis zur Baumgrenze. Mit der feuchteren Gewitterluft lag der Gipfel bereits in Wolken. Ich traf sogar auf mehr Rennradfahrer als noch am Wochenende, wobei die meisten von Ihnen mit großen Gepäcktaschen unterwegs waren. Bikepacking liegt klar im Trend. Am letzten Tag wurden die Wolken auch über dem Jaufenpass im Tagesverlauf immer größer und bedrohlicher. Ich beobachtete das Anwachsen der Wolken mit Sorge, als ich von St. Leonhard bergauf fuhr. Oben am Jaufenpass angekommen zog ich mir schnell meine Windweste an, denn aus Westen zog bereits ein dicker Gewitterschauer heran. Die obersten Kehren wurde ich noch von einem Wohnmobil aufgehalten, dann aber hatte ich bis unten freie Fahrt. Bei der Abfahrt kannte ich bereits jedes Schlagloch und war dementsprechend schnell im Tal. Dort erwischten mich dann auch die ersten Tropfen des Gewitters bevor ich mich unter das Dach einer Bushaltestelle, wo sich alsbald auch zwei weitere Rennradfahrer einfanden. Dem Gewitter entronnen – das war für mich ein würdiger Abschluss meiner Trainingswoche in Sterzing. Wie sich diese Woche in den Bergen auf meine Form ausgewirkt hat, wird sich zeigen. In solch einer Trainingswoche mit 21.000 Höhenmetern ist die Ermüdung zu groß, als das aus Puls und/oder Watt unmittelbar auf eine Veränderung Rückschlüsse gezogen werden könnten.
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