Das Ende der Welt?
Alles begann Mitte August. Mehr als 4000 Radfahrer verpassen sich um diese Zeit den letzten Feinschliff für den Ötztaler Radmarathon Anfang September. Alle Fahrer sind auf die Vorbereitung fokussiert. Ihr geistiger Horizont endet zeitgleich mit Start des Rennens. So als wäre es das Ende der Welt.
Es war ein warmer Sommertag in Tirol. Ich fuhr gerade vom Kühtai Richtung Sölden. Da erreichte mich eine Nachricht von Tina: Hi Lisa, uns fehlt noch die vierte Dame in unserem Team fürs BMW-Mannschaftszeitfahren Mitte September. Hast Du Lust? Schlagartig wurde ich aus meiner Trance gerissen: Es gibt ein Leben danach, ein Leben nach dem Ötztaler! Doch welcher Radfahrer kann schon sagen, ob er nach einem Ötztaler noch Lust auf Wettkampf hat? Noch nie in meinem Leben hatte ich an einem Mannschaftszeitfahren teilgenommen. Erst einmal war ich bei einem Einzelzeitfahren am Start gewesen. Ich spürte wie Begeisterung meine Gedanken flutete. Vier Damen zusammen auf vier Rennmaschinen? Frauenpower im Radsport! Das klingt nach Spaß! Reichlich Argumente wie mir schien. Und getreu dem Motto: „raus aus der Komfortzone“, sagte ich kurz und schmerzlos zu.
Langsam mit den jungen Einhörnern
In meinem Enthusiasmus hatte ich die Eckdaten des Zeitfahrens zunächst nicht genauer beleuchtet. Erst Anfang September, als der Ötztaler wieder für ein Jahr Geschichte war, machte ich mich daran abzuschätzen, was mich erwartete. Nüchtern stellte ich fest: Es gab gleich mehrere Unbekannte in der Gleichung. Bei einem Mannschaftszeitfahren müssen vier „Mann“ – in unserem Fall natürlich Frauen – als Team harmonieren. Ich hatte keine der drei anderen Damen jemals persönlich getroffen. Mit Tina hatte ich online schon öfter Kontakt gehabt. Ich kannte ihre Stimme vom Telefon und wir waren uns sehr sympathisch. Kathrin war mir nur von der Plattform STRAVA ein Begriff und Moni war ein unbeschriebenes Blatt für mich. Unsere Leistungen auf dem Rad sollten laut Tina in einer ähnlichen Klasse liegen, was die Grundvoraussetzung für gutes Teamwork ist. Auch das Rennen kannte ich nur vom Namen. Veranstalter des Zeitfahrens ist mein Verein, die Abteilung BMW Radsport der BMW Sportgemeinschaft e.V.. Das BMW-Mannschaftszeitfahren im Vierer hat eine mehr als 40-jährige Tradition auf dem Testgeländer der BMW Group. Die BMW-Teststrecke in Aschheim nahe München ist normalerweise abgesperrt und nicht frei zugängig. Für Besucher herrscht strenges Foto- und Videoverbot. Einmal im Jahr wird die Teststrecke für Fahrräder freigegeben. Ich sah mir die Ausschreibung im Internet auf der Seite meines Vereins an. Die Strecke besteht aus neun Runden auf der Teststrecke. Die Gesamtlänge beträgt 70 Kilometer! Als ich das las, schluckte ich. Das bedeutet eine Fahrzeit von weit mehr als einer Stunde. Mit normalen Rennrädern geht es schon Richtung zwei Stunden. Das lässt sich nicht mit „Augen zu und durch“ abfertigen. Das muss getaktet und getimt werden. Ansonsten verlassen einem zum Rennende hin die Kräfte.
Die richtige Anzahl an Rädern ist n+1
Im Zeitfahren entscheiden vor allem zwei Dinge über Sieg oder Niederlage: Die Leistungsfähigkeit eines Fahrers und seine Aerodynamik. An der Power kann man wenige Tage vor einem Wettkampf nicht mehr viel ändern. Bei der Aerodynamik hat man hingegen schnell an den Stellschrauben gedreht. Das Zauberwort lautet hier „Material“. Ich besitze zwar mehrere Räder, ein Zeitfahrrad ist aber nicht dabei. Einen Auflieger habe ich nicht und ich bin auch noch nie mit einem gefahren. So kurz vor einem Wettkampf würde ich keine Zeit mehr haben, um mit einem Aufsatz zu üben, ganz zu schweigen davon die richtige Einstellung bei einem Umbau eines Rennrads zu finden. Mit einer schlechten Position auf dem Rad, würde ich zu wenig Leistung abrufen können. Der ungewohnte Umgang mit einem Auflieger bei einem Bremsvorgang wäre bei Fahren im Windschatten gefährlich. Tina hatte wie ich nur ihr gewöhnliches Rennrad und keine Erfahrung mit einem Auflieger. Da wir vor allem keine Sturzgefahr riskieren wollten, entschieden wir uns gegen einen Aufsatz. Kathi hingegen hatte ein Rad mit Auflieger und Moni als Triathletin sogar ein voll ausgestattetes Zeitfahrrad mit Scheibenrad. So hieß es für uns die Erwartungen herunterschrauben. Einen Probelauf in Vollbesetzung gab es für uns nicht. Beim Motto waren wir aber bereits im Einklang: Spaß haben und Frauenpower zeigen.
Raceday
Das Wetter ist perfekt: Sonnenschein, nicht zu heiß und ganz wichtig: nur leichter Wind. Das erste Kennenlernen findet auf dem BMW-Testgelände statt: die Chemie stimmt. Nach einem kurzen Einfahren und der offiziellen Fahrerbesprechung rollen wir gemeinsam zum Start. Die Teams starten jeweils in einem Abstand von 2 Minuten. Die Teammitglieder stehen an der Startlinie nebeneinander. Es ist ein Gefühl wie am ersten Schultag. Theoretisch ist alles schon durchgekaut worden, aber praktisch hat man keine Ahnung was einen erwartet. Der Startschuss fällt. Wir sprinten los und gehen gleich in Formation: Moni vorne weg, gefolgt von Kathi, dann Tina und ich bilde die Nachhut. Die ersten beiden Runden taste ich mich langsam an das Prozedere heran. Es funktioniert erstaunlich gut. Ein offizieller Fotograf hat seine Kamera in der zweiten Kurve aufgebaut. Noch gibt es ein Lächeln fürs Foto. Die Beine treten ohne Unterlass: Takt, Takt, Takt. Die Nerven sind angespannt und ich bin hochkonzentriert. Wir fahren dicht an dicht. Ein Sturz ist leicht passiert, nur eine Sekunde Unaufmerksamkeit reicht. Der Windschatten beim Wechseln ist schnell verfehlt. Ich fühle mich sehr gut. In Runde fünf beschließe ich einen Zahn zuzulegen. Sobald ich vorne im Wind fahre, erhöhe ich möglichst sachte unsere Geschwindigkeit, damit unser Team nicht auseinanderreißt. Bereits sehr viele andere Teams sind nur noch zu dritt unterwegs. Wer rausfällt muss ohne sein Team zum Ziel fahren und ist aus dem Rennen. Schließlich heißt es für uns „final lap“. Jeder von uns gibt alles. Auf den letzten Metern führe ich und beschleunige. All out! Mit 47 km/h rasen wir über die Ziellinie! Das Gefühl: unbeschreiblich glücklich!
Platz 2 bei den Damenteams mit 39,8 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit hieß es am Ende für uns. Damit hatten wir nicht gerechnet. Das ist Frauenpower!
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