Ötztaler Radmarathon 2016

Der Ötztaler Radmarathon ist legendär. Ich hörte das erste Mal von ihm 2012. Bei meinem ersten Radurlaub auf Mallorca, fuhr ich zusammen in einer Gruppe mit Fahrern, die im Vorjahr den Ötztaler gefinished hatten. Ich war hochbeeindruckt von den Zahlen des Ötztalers: 238 Kilometer und 5500 Höhenmeter. In meiner damals zweiten Saison auf dem Rad, war es für mich quasi unvorstellbar, solch eine Strecke jemals an einem einzigen Tag bewältigen zu können. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich mir nie träumen lassen, selbst ein Finisher dieses wahnsinnigen Marathons sein zu können. 2015 beschloss ich dann für mich, dass ich den Ötztaler Radmarathon einmal in meinem Leben finishen will und meldete mich im Februar 2016 zur Verlosung eines Startplatzes an. Wie die meisten der sich Anmeldenden, hatte ich kein Losglück. Ein Bekannter konnte jedoch nicht teilnehmen und bot seinen Startplatz im E-Mail-Verteiler unserer Radgruppe zur Übertragung an. Ich antwortete sofort ohne zu Zögern und von da an hieß es für mich: Ich habe einen Traum.

Im August 2016 war es dann soweit. Freitag vor dem Rennen ging es nach Sölden. Es war unglaublich, was in Sölden los war. Das beschauliche Örtchen quoll aus allen Nähten. Es war eine grandiose Atmosphäre. Wo man hinsah: überall Radsportler. Eine Bombenstimmung. Das Wetter war an diesem Wochenende perfekt: sonnig und sommerlich warm. Am Vormittag erledigten wir das Formale, wie Abholen der Startunterlagen und Abgabe der „Material“-Beutel. Letzteres ist eine Besonderheit beim Ötztaler Radmarathon. Man kann Dinge wie Kleidung oder Riegel am Vortag des Rennens in einen dafür vorgesehenen Beutel packen und diesen an einer Verpflegungsstation seiner Wahl deponieren lassen, um ihn beim Rennen abzuholen bzw. ihn mit Dingen zu füllen, die man nicht mehr benötigt. Wir entschieden uns für die Labestation am Brenner, um dort die wärmeren Kleidungsstücke gegen kühlere zu tauschen und neue Gels und Riegel einzupacken. Gels wurden beim Rennen 2016 nicht an den Verpflegungsstationen angeboten. Am Nachmittag gab es noch eine kurze Runde mit dem Rad und anschließend bereiteten wir alles für das Rennen vor. Abends ging es dann zur Fahrerbesprechung.

Einrollen am Vortag in Sölden

Am Renntag ging es früh aus dem Bett und zum Frühstück im Hotel. Da trafen wir unsere zukünftigen Leidensgenossen. Anschließend fanden wir uns mit tausend anderen Fahrern zum Start an. Die Menge an Fahrern staute sich die Hauptstraße entlang bis bereits der Anstieg zum Ende des Ortes Richtung Timmelsjoch einsetzt. Es dauerte nach dem Startschuss lange bis die Bewegung auch bei uns im hinteren Teil des Feldes ankam. Nach Ötz hinunter waren die Fahrer noch recht dicht gedrängt und es passierten einige Stürze. Einige gaben so Gas, als wenn das Ziel bereits in wenigen Kilometern zu erreichen wäre. Im ausgeruhten Zustand passiert es leicht, dass man die Anstrengung nicht war nimmt und sein Pulver bereits zu Beginn verschießt oder zumindest dezimiert. Klar wurde mir das bei der Abfahrt, als ich auf meinen Leistungsmesser blickte. Meine Watt waren deutlich zu hoch und ich drosselte sofort mein Tempo. Am Fuß des Kühtai angekommen, gab es einen regelrechten Stau. Nicht nur weil es nun bergauf ging, sondern vor allem deshalb, weil viele Teilnehmer wärmere Kleidungsstücke auszogen und dabei unmittelbar am Straßenrand standen und so die Fahrbahn verengten. Ich hatte mir fest vorgenommen meine Pace zu fahren und mich nicht von anderen mitreißen lassen. Ich wollte „nur“ finishen. Meine Zeit war mir egal. Ich fuhr am ersten Anstieg äußerst rechts und hatte dennoch Angst dass mich jemand vom Rad fährt. Es war unglaublich was für ein Hauen und Stechen sich einstellte. Die Leute schoben sich millimeterknapp aneinander vorbei. Gefühlt versuchten alle irgendwie alle anderen zu überholen.  Der absolute Irrsinn. Ich fixierte mich auf meine vorgenommenen Watt und fuhr das Kühtai weiter bergan. Ich wurde praktisch fast ausschließlich überholt und hatte irgendwann das Gefühl, dass ich schon letzte sein müsste. Ich blickte mich in den Kehren immer wieder um, ob überhaupt noch Leute hinter mir sind oder ob mich schon alle abgehängt haben. Es waren aber wirklich noch hunderte Fahrer unter mir zu sehen. Oben angekommen, füllte ich meine Flaschen an der Labe und ging in die Abfahrt. Die Abfahrt vom Kühtai ist schnell und sehr viele Fahrer waren sichtlich unsicher im Abfahren.

Abfahrt vom Kühtai

Bei der anschließenden Fahrt durch Innsbruck versuchte ich eine passende Gruppe für den Brenner zu finden. Leider vergebens. Und so war ich die größte Zeit am Brenner alleine unterwegs, was viel Kraft kostet. Entweder waren die Fahrer deutlich langsamer, so dass ich in diesen Gruppen zwar Kraft gespart hätte, aber auch viel Zeit verloren gegangen wäre, oder aber die Gruppen waren zu schnell unterwegs und ich hätte beim mitgehen überpacen müssen. Erst im letzten Drittel rollte eine Gruppe von hinten auf mich zu, deren Geschwindigkeit gut zu meiner gepasste. Am Brenner angekommen, machte ich eine größere Pause. Ich füllte meine Flaschen und holte meinen Beutel, indem ich mein dickes Gabba verstaute, dass mir bereits viel zu warm geworden war. Jetzt ging es nach Sterzing und von da an den Jaufenpass hinauf. Die Fahrer, die mit mir durch Sterzing fuhren, gaben für meinen Geschmack am beginnenden Anstieg zu viel Gas und ich fuhr wie schon am Kühtai meine Geschwindigkeit.  Ich unterhielt mich noch mit einem Radler und staunte wieder einmal über die gigantisch schöne Landschaft. Es dauerte nicht lange und ich war auf der „Überholspur“. Alle schnellen Fahrer waren bereits weg und die anderen fingen nun an allmählich an nachzulassen. Ich konnte den Unmut der meist männlichen Fahrer sehen, dass sie von einer Frau überholt wurden. Einer rief mir noch nach: das Tempo willst Du aber nicht bis oben fahren! Ich dachte mir nur: doch, diese Leistung fahr ich bis oben! Und so war es auch. Ich fühlte mich gut und an der Verpflegung auf dem Jaufenpass füllte ich erneut meine Flaschen. Ein Bekannter wartete oben auf mich und rief mir zu: Lisa, Du siehst noch verdammt gut aus! Weiter so! Die Abfahrt vom Jaufenpass ist die anspruchsvollste der vier Abfahrten. Es gibt viele Kehren und der Straßenbelag hat teilweise große Schlaglöcher und Risse. Aber ich liebe Abfahrten, die Geschwindigkeit, auch wenn ich tatsächlich immer Bammel verspüre. Und dann wartete es auf uns: das Timmelsjoch. Am Fuß blickt man nach oben und sieht die Höhenmeter und das Leiden, was auf einen wartet. Die ersten Meter am Timmelsjoch lief es weiter rund. Aber jetzt kam die Hitze mit über 30 Grad und wurde unerträglich heiß.

Fokusiert am Brenner

Es war mein erster Radmarathon und ich hatte einen bösen Fehler gemacht: ich hatte zu wenig gegessen. Und das sollte sich nun rächen. Es kam plötzlich und unvermittelt. Meine Energie war mit einem Schlag weg. Ich konnte meine Leistung nicht mehr halten. Zwei Riegel und ein paar Gels waren neben den Isodrinks einfach zu wenig Energie, um einen Radmarathon wie den Ötztaler zu fahren. Kurzerhand packte ich einen Riegel aus und nahm hinterher noch ein Gel. Meine Watt kletterten wieder etwas nach oben, aber richtig kraftvoll war ich nicht mehr. Aber mein Entschluss stand fest: absteigen werde ich nicht. Im Gegensatz dazu war die Straße gesäumt mir sitzenden Fahrern oder solchen, die ihr Fahrrad schoben. Einige lagen sogar am Boden und weinten, weil sie körperlich am Ende waren. Interessanter Weise waren es sogar häufig Männer, denen man von ihrer Statur zugetraut hätte, den Radmarathon in weniger als zehn Stunden zu finishen. Kraftlos kurbelte ich mich weiter und immer weiter. Die Kehren im oberen Teil waren wieder steiler und taten ordentlich weh in den Beinen. Aber nun wusste ich: ich hab es geschafft. Es ist nicht mehr weit. Als ich durch den Tunnel oben auf dem Timmelsjoch rollte, kamen mir die Tränen. So lange hatte ich gebangt und hin gefiebert und nun war es vollbracht. Ich ging in die Abfahrt und den Gegenanstieg hinauf. Oben wartete der Teufel. Didi Senft, den man von der Tour de France kennt. Er stand am Straßenrand und feuerte uns mit seinem Dreizack an. Und siehe da, das ist doch… Dani. Ich hatte ihn am Gegenanstieg eingeholt. Ich wollte ihm gleich meine ganzen Erlebnisse schildern. Er aber winkte nur müde ab: nachher. Gleich ging es in die Abfahrt. Ich gab mit Blick auf die Uhr nun richtig Gas: Unter 11 Stunden müssen drin sein! Und tatsächlich erreichten wir das Ziel in 10:59 Stunden. Was für ein Höllenritt.

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