Rückblick und Training 2.0(22) – 17 Tage mit 58.000 Höhenmetern

Das Jahr 2022 verlief für mich durch die Bank in völlig neuen Bahnen. 2022 war für mich schlichtweg in allen Lebensbereichen außergewöhnlich mit zahlreichen Herausforderungen und Erkenntnissen. Die einzigen, gefühlten Konstanten waren die Tatsache, dass der Tag 24 Stunden hat, der Sommer heiß und Winter kalt ist sowie meine Teilnahme am Ötztaler Radmarathon im August. Die Tageslänge und der Wechsel der Jahreszeiten wird mir sehr wahrscheinlich auch nächstes Jahr erhalten bleiben. Der Ötztaler Radmarathon hingegen steht in den Sternen und findet zu 100% im Juli – und nicht wie traditionell gewohnt im August – statt. Ich möchte hier einen Teil meiner Eindrücke und Erkenntnisse des Jahres 2022 teilen.

Der Radsport hat sich verändert. Früher war Rennrad-Sport eine Nische. Mit dem Sieg von Jan Ulrich bei der Tour de France flammte das Interesse in der breiten Bevölkerung in den 90ern dafür etwas auf, verschwand mit den Dopingvorwürfen aber auch schnell wieder. Die Wende hin zu mehr Popularität vollzog sich vor allem durch die COVID-Pandemie. Während der Ausgangssperren war Radfahren als sportliche Betätigung gestattet. Nicht nur dass jetzt mehr Menschen aufs Rad und damit auch aufs Rennrad steigen, auch die gesellschaftliche Bedeutung hat sich geändert. Ging es früher darum seine Leistung zu verbessern, an Rennen teilzunehmen und sportliche Erfolge zu feiern, so steht der gesundheitliche Aspekt des Radfahrens als Sport mit im Vordergrund. Durch die stetige Zunahme von chronischen Zivilisationskrankheiten ist die Bewegung auf dem Rad zu mehr als einem reinen Hobby geworden. Im Lockdown mit eingeschränkten Sozialkontakten diente das Teilen von Erlebnisberichten mit Bildern, Videos und Aufzeichnung der Aktivitäten auf Sportplattformen und Social-Media-Kanälen dem Austausch mit anderen. Radfahrer hatten so eine Möglichkeit dem angeborenen Sozialtrieb eine Befriedigung zu verschaffen.

Auch 2022, nach dem offiziellen Ende der Corona-Pandemie, erfüllt der Radsport weiter zahlreiche Bedürfnisse. Die Art Rad zufahren hat sich jedoch verändert. Bikepacking und Ultracycling wird von immer mehr Sportlern betrieben. Während das Abenteuer Bikepacking einer recht klaren Definition unterliegt, wird der Begriff Ultracycling – ähnlich dem Begriff der „Nachhaltigkeit“ – inflationär verwendet und auch gerne angewandt, um Aktivitäten in positivem Licht erscheinen zu lassen. Früher nahmen Radsportler „einfach“ an einem 24-Stunden-Rennen teil. Heute wird das gerne als Ultracycling deklariert. Gerade in den Sozialen Netzwerken wird um die Aufmerksamkeit und den Zuspruch anderer Menschen gerungen. Die meisten Follower, die meisten Likes und Views sind es, die die Menschen antreibt. Dabei sind nicht wenige Stars und Prominente bereits gescheitert und zerbrochen, obwohl sie alles erreicht haben. Der bekannte Bestseller-Autor Anthony Robbins bezeichnet Erfolg ohne Erfüllung als das ultimative Versagen. Radsportler können Erfüllung Tag für Tag durch das reine Radfahren finden: Das Genießen des Augenblicks, das Spüren des Fahrtwinds, das Fühlen der Anstrengung. Für mich ist Radfahren eine Art Flow-Meditation, die mich nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Hormone in Balance hält und unglaublich glücklich macht.

Strava

Der gesundheitliche Aspekt des Radsports stand für mich dieses Jahr weit im Vordergrund. Trotzdem war mir der Aufbau von Leistung, vor allem auch hinsichtlich meiner geplanten Teilnahme am Ötztaler Radmarathon, wichtig. Viele Radsportler machen zur Vorbereitung auf ein solches Event eine Leistungsanalyse und holen sich einen Trainingsplan. Mittlerweile gibt es zahlreiche Anbieter, die mit einem Paket zur Vorbereitung werben. Aber Hand aufs Herz, diese Pläne sind meist alles andere als individuell und folgen einem 0815-Program, welches auch für jede beliebige andere Veranstaltung dient. Ein bis drei Blöcke mit intensiveren Einheiten pro Woche, einem Ruhetag (meist Montag) und längeren Grundlagenausfahrten am Wochenende, sind die Regel. Die intensiveren Einheiten sind z.B. eingestreutes Sprinttraining, längere Sweetspoteinheiten, 30/30-Intervalle, 3×8 VO2max etc. Mit diesen Trainingsplänen ist man als Sportler und vor allem auch als Trainer auf der sicheren Seite. Eine Steigerung der Leistung ist damit bei Sportlern fernab einer „Austrainiertheit“ garantiert und Übertraining wird vermieden. Dass es auch anders geht und vielleicht auch gehen muss, wenn man bei einem Rennen mit dem Format eines Ötztalers nicht nur finishen will, zeigte die diesjährige Gewinnerin Catherine Rossmann. Ohne Trainingsplan aber mit „Viel hilft viel“ und vor allem dem nötigen Spaß am Training überraschte sie alle. Auch wenn ich nicht mal in die Nähe des Siegerpodests kam, so zeigte auch mein Training, dass die Standardtrainingspläne nicht die optimale Vorbereitung für einen Ötztaler sein müssen. Was braucht es für ein solches Rennen? Wichtig ist der Kopf. „Leidenkönnen“ ist ein wichtiger Skill wenn nach mehreren Stunden Fahrt das Timmelsjoch als Endgegner wartet. Nicht zu unterschätzen ist die Verpflegung. Ausreichend Flüssigkeit und Energie in Form von Kohlenhydraten müssen zugeführt werden und das muss gut geplant sein. Nicht zuletzt muss der Körper in der Lage sein lange Zeit in höheren Leistungsbereichen unterwegs zu sein. Deshalb ist Ausdauertraining ein Muss. Das Training muss allerdings nicht zwingend auf dem Rad stattfinden. Sportarten wie Skilanglauf oder Skitouring im Winter oder Jogging trainieren die Ausdauer. Der Ausdauereffekt beim Radtraining kann durch falsches Training allerdings sogar zerstört werden (dazu ggf. 2023 mehr). Neben der gewöhnlichen Ausdauer, benötigt es für die Passfahrten sogenannte Kraftausdauer, damit der Muskel das langsame, kraftvolle Kurbeln am Berg auch am dritten und vierten Pass noch leisten kann. Meine Ausdauer konnte ich dieses Jahr mit regelmäßigen kürzeren Ausfahrten von bis zu 2 Stunden trainieren. Allerdings intensivierte ich den Trainingseffekt durch Tage mit zweimaligem Training und regelmäßigem Nüchterntraining. Die Mitochondrien sind so besonders gefordert und die Energiegewinnung durch Laktat wird verstärkt trainiert. Die Regelmäßigkeit der Einheiten von Tag zu Tag schlägt hier in der Effizienz die Dauer der Ausfahrten. Um noch die nötige Kraftausdauer zu entwickeln, waren einige Tage in alpinem Gelände nötig. Um die wenige Zeit, die ich hatte, effektiv zu nutzen, hatte ich Strecken ausgewählt, welche hauptsächlich bergauf bzw. bergab verliefen. Flache Kilometer habe ich so gut es ging vermieden. So kamen in 2 Urlauben mit 17 Tagen gut 58.000 Höhenmeter zusammen. Um diese Menge körperlich zu bewältigen, musste ich dabei auf intensive Einheiten verzichten und so die nötige Regeneration von Tag zu Tag zu erreichen. Als Südtiroler Ausgangsorte dienten Obertelfes bei Sterzing, Kaltern an der Weinstraße und Arabba in den Dolomiten. Den Bericht über das erste Training am Jaufenpass („Bergtrainingswoche: 7 Tage 21.000 Höhenmeter„) findet ihr hier. Der zweite Urlaub gestaltete sich in zwei Etappen. Besonders hart waren die Tage in Kaltern, da in dieser Zeit hochsommerliche Temperaturen von bis zu 39 Grad in der Region herrschten. Um der Hitze zu entkommen suchte ich mir eine Strecke, die von der Bozener Tiefebene weg ins bergige Hinterland führte. Aber selbst auf 1000 Meter lag die Lufttemperatur noch bei 30 Grad, so dass man sich vorstellen kann welcher Hitze ich beim Klettern in der Sonne über heißem Teer ausgesetzt war. Meine Rundtour mit maximal ausgereizten Höhenmetern von gut 4200 in den Bergen fuhr ich drei Tage nacheinander, da bei allen anderen Strecken die Hitze unerträglich gewesen wäre und weil diese Strecke wunderschön und recht einsam war. Ich kann diese Tour nur schwer empfehlen! Ihr findet die Route auf meinem Strava-Account und bei Komoot. Ich würde die Tour nicht in die entgegenläufige Richtung einschlagen, da am höchsten Punkt ein längerer Tunnel beginnt, der abwärts nach Lana führt und von einer sehr steilen, aber neu geteerten Strecke mit kürzeren Tunnelstücken (teils unbeleuchtet) abgelöst wird. Diese Strecke würde ich nicht als Auffahrt empfehlen. Im zweiten Teil des Urlaubs in den Dolomiten wurde die Hitze aufgrund der Höhenlage erträglicher. Die Pässe waren ungewohnt voll und gefühlt waren alle Urlauber aus Italien, wie auch die Autokennzeichen vermuten ließen. Nur selten begegnete man deutschsprachigen Radfahrern. Italienische Rennradfahrer kann man teilweise schon von Weitem von Radfahrern aus dem deutschsprachigen Raum unterscheiden. Dabei liegt es nicht an der Haar- oder Hautfarbe, sondern oft an der getragenen Radbekleidung. Während deutsche Radfahrer häufig grau in grau mit gedeckten Farben wie schwarz, weiß, braun aufwarten und „coole“ Marken wie Rapha, Poc oder Specialized bevorzugen, trägt der Italiener gerne bunt und traditionelle italienische Marken a la Ale oder Castelli. Auch ärmellose Trikots sind – anders als in Deutschland – nicht verpönt. Als Radfahrerin fühle ich mich von Italienern ehrlich als Sportlerin respektiert. Ausrufe wie „complimenti“ sind keine Seltenheit. Rapha-tragende Rennradler erwidern hingegen selten den Sportlergruß. Diese Unterschiede haben sich meinem Eindruck nach in den letzten Jahren nicht geändert. Schade.

Was sich die letzten Jahre geändert hat, ist das Ansehen des Rennradsports in der Gesellschaft. Kannte man Radsportler früher nur aus dem Fernsehen und als lästiges Beiwerk auf Land- und Passstraßen, so ist das Rennrad mittlerweile als Lebensgefühl en vogue. Nachdem man nun auch in den Werbespots des Vorabendprograms der öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten Frauen mittleren Alters Rennräder eine Treppe im Hausflur hinauftagen sieht, ist mir klar geworden, dass Rennräder in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Rennradfahren ist hip. Hersteller von Fahrrädern und Fahrradzubehör orientieren sich bei der Vermarktung dabei an menschlichen Grundbedürfnissen. Es geht weniger darum mit dem Rennrad schnell zu sein, als dem Anschein nach schnell auszusehen. Aerorahmen, Aerolenker oder Aerohelme sind quasi ein Muss, auch wenn man die nötige Geschwindigkeit zur Entfaltung des Aeroeffekts nicht erreicht. Eins hat sich auch in 2022 nicht verändert und das ist der Mensch. Das Vergleichen mit anderen ist uns angeboren, per se nichts Schlechtes und war in der Menschheitsgeschichte eine Triebfeder für Fortschritt. „Höher, schneller, weiter“ hat die Menschheit befähigt die Ozeane zu überqueren, Krankheiten zu besiegen und auf den Mond zu fliegen. Das Konkurrieren mit anderen ermöglicht es Menschen an ihre Grenzen zu gehen und neue Wege zu beschreiten. Erst wenn Neid, Gewalt und Macht ins Spiel kommen, verkehrt sich das Positive hin zu Negativem und im Extremfall zu Leid, Tot und Verderben – wie mit dem im Februar begonnenem Krieg in der Ukraine. Menschen vergleichen sich jedoch nicht nur, um ihre Leistung oder ihren Status einzuordnen. Jeder Radfahrer, jeder Mensch möchte einzigartig sein. Dabei ist dieser Wunsch ein Irrtum. Jeder Mensch ist von Natur aus ein Individuum. In der Leidenschaft des Radsports sind wir hingegen alle vereint. One love.

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