Der Ötztaler Radmarathon steht für einen Kraftakt über 238 Kilometer und 5.500 Höhenmeter – so die offiziellen Daten. Demgegenüber stehen meine Fakten, meine Spezifika als Radfahrerin. Zur Verbesserung meiner Finisherzeit werfe ich in die Waagschale: Eine höhere Wattzahl an der funktionalen Leistungsschwelle (Functional Threshold Power, FTP) und ein verrringertes Körpergewicht im Vergleich zum Vorjahr. Warum unterm Strich trotzdem nur 7 Minuten Zeitverbesserung herausgesprungen sind, erklärt sich mit einer Besonderheit beim Ötztaler Radmarathon.
Rücksichtslosigkeit
Ich habe ein Déjà-Vu. Es ist dunkel und kalt. Neben mir stehen Philipp und Dani und gleichzeitig noch hunderte und bald tausend andere Radfahrer. Aus den Boxen am Straßenrand dringt Musik. Ein Tag voller Emotionen liegt vor uns. In nicht einmal mehr einer Stunde ist es wieder so weit: der Ötztaler Radmarathon startet.
Der Startschuss ertönte. Bei der Abfahrt nach Ötz lies ich es ruhiger angehen als in den vergangenen Jahren. Zu groß war die Befürchtung vor einem Sturz. Letztes Jahr wurde ich Zeuge eines Crashes. Oft, aber nicht immer, sind es die testosteron-geladenen Fahrer, die meinen das Rennen schon auf den ersten Kilometern gewinnen zu müssen, die einen Zusammenstoß verursachen. Bei einem dichtgedrängten Fahrerfeld von über 4000 Startern ist die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls einfach zu hoch. Bei der dann folgenden Auffahrt zum Kühtai war das Feld weiter dicht gedrängt und dennoch herrschte unglaubliche Stille. Keiner sprach ein Wort. Nur das Keuchen und Schnaufen der Fahrer war zu hören. Vielleicht lag der Umstand des Schweigens am geringen Frauenanteil von knapp 5 Prozent. Doch halt, einen Italiener hörte ich telefonieren. Die Abfahrt vom Kühtai ist traditionell schnell. Dort passierte dieses Jahr ein schwerer Unfall. Ich bin froh ihn nicht miterlebt zu haben, denn so etwas geht mir sehr nahe. Aber wundern? Nein, wundern tut es mich nicht. Zu oft erlebt man rücksichtsloses Verhalten. Rücksichtslos und dabei gedankenlos, denn schnell passiert ein Sturz und die Folgen können tödlich sein. Im unteren Teil der Abfahrt wurde ich von einem Fahrer unnötig geschnitten und sogar ausgebremst. Die Fahrbahn war ansonsten frei und das Manöver brachte dem Fahrer keine einzige Sekunde Zeitersparnis ein. Im Gegenteil! Es war lediglich eine Machtdemonstration Mann gegen Frau. Aber auch von sehr zaghaften Fahrern geht Gefahr aus. Als ich auf den ersten Kuhrost im oberen Teil zufuhr, hielt ich mich ganz links, da ich erfahrungsgemäß, trotz meines verhältnismäßig geringen Körpergewichts als Frau, zu den schnelleren Abfahrern gehöre. Vor mir befanden sich fünf weitere Fahrer, die nebeneinander auf das metallenere Gitter zusteuerten. Der Fahrer vor mir bremste kurz vor dem Kuhrost plötzlich heftig ab und auch ich musste stark in die Eisen steigen, da es keine Möglichkeit gab ihm auszuweichen. War dieser Fahrer womöglich das erste Mal hier am Kühtai unterwegs? Auch im weiteren Verlauf gab es immer wieder gefährliche Situationen. Fahrer bremsten ohne ersichtlichen Grund stark oder wechselten ihre Spur ohne auch nur einmal einen Blick zur Seite oder hinten zu werfen, um den Abstand zu anderen Fahrern abzuschätzen. Natürlich wird es beim Radfahren und insbesondere in Radrennen immer wieder zu Missverständnissen mit anderen Fahrern kommen oder man übersieht im Eifer des Gefechts andere. Jedoch ohne Sinn und Verstand und mitunter sichtlich überfordert eine solche Strecke hinunterzuheizen, halte ich für bedenklich.
Die Sache mit dem Brenner
Jeder kennt das „Geheimnis“ des Ötztalers: am Kühtai nicht überziehen und sich am Brenner eine passende Gruppe suchen, dann bleibt für Jaufenpass und Timmelsjoch noch ausreichend Kraft übrig. Wer das nicht beherzigt, muss insbesondere am letzten Pass furchtbar leiden. Woran liegt es, dass dennoch jedes Jahr viele Fahrer diese Strategie nicht befolgen? Die Antwort lautet: Adrenalin und Angst vor Zeitverlust. Der Brenner ist eine Besonderheit des Ötztaler Radmarathons: Nicht Fisch, nicht Fleisch. Er ist zu flach für einen „richtigen“ Pass, um ihn ohne Windschatten im Alleingang bestreiten zu wollen, aber auch zu steil, um es sich in einer Gruppe gemütlich zu machen. Die Kunst oder auch das Glück ist es, eine Gruppe mit passender Geschwindigkeit zu finden. So viel zur Theorie. Und dieses Jahr hat es mich auch erwischt. Am Kühtai war ich noch brav meine Pace gefahren und ein paar Minuten schneller als im Vorjahr. Nach der Abfahrt durch Innsbruck befand ich mich am Ende einer riesigen Gruppe, mit der ich Richtung Brenner rollte. Dann passierte das, was man von Gruppenausfahrten kennt. Kaum kommt ein Anstieg, drücken alle wie bescheuert, so als gäbe es einen Bergsprint zu gewinnen. Mit Blick auf meine Watt entschied ich mich noch sehr nüchtern, dieses wahnwitzige Tempo nicht mitzugehen, um dann jedoch schon kurz darauf von Angst getrieben den Brenner solo hochzufahren, da weit und breit keine Gruppe mehr hinter mir zu sehen war, die als Ersatz dienen hätte können. Nach einer gefühlten Ewigkeit sah ich vor mir wieder die Gruppe von zu Beginn auftauchen. Es war wie in einer Wüste, bei der man im flirrenden Sand am Horizont eine Oase vermutet, die man aber nie erreicht. Ich arbeitete mich Meter für Meter an die Gruppe heran. Als ich sie schließlich eingeholt hatte, war mir klar, dass ich durch meinen Alleingang nicht nur Zeit, sondern vor allem auch Körner verloren hatte. Ich ahnte Böses für die letzten beiden Pässe.
Im Schmerz vereint
Flog ich die letzten Jahre den Jaufenpass hinauf, so war es dieses Jahr eine zähe Geschichte. Nur die Abfahrt bewahrte ihren geschmeidigen Flow. Zum Schluss erwartet die Fahrer ein Joch, das Timmelsjoch. Ich erspare dem Leser hier die Leidensgeschichte der schmerzenden Körperteile. Auch wenn in diesem Abschnitt jeder mit sich selbst beschäftigt ist, so sind im Leid doch alle Fahrer vereint. In allen Gesichtern stand es geschrieben: hoffentlich hat der Schmerz und die Anstrengung bald ein Ende. Und dann machte ich eine Beobachtung, die ich bis heute nicht verstehe. Im oberen Teil des Passes sah ich, wie eine Dame von ihrem Begleiter geschoben wurde. Hier ging es nicht um das alleinige Finishen des Marathons, da wir im vorderen Teil des Frauenfeldes fuhren. Es ging um die Platzierung. Mir ist unbegreiflich, wie man sich als offensichtlich ambitionierte Frau – aber auch als anschiebender Mann – zu solch einer Aktion hinreißen lassen kann. Hier scheint der Ehrgeiz weit über dem sportlichen Selbstwertgefühl zu stehen. Die Anerkennung von Frauen als ernsthafte Radsportler wird dabei komplett untergraben. In der Abfahrt vom Timmelsjoch blies uns kräftiger Wind entgegen. Kurz vor Sölden hatte ich noch einen heftigen Lachanfall, als ein italienischer Fahrer in voller Fahrt vor mir unerwartet zu telefonieren begann. So brachte ich meinen bis dato schnellsten Ötztaler ins Ziel.
Im Sölden angekommen, wurde ich spontan vom Team der Organisation zur Live-Übertragung ins Studio geführt. Nachdem ich 2018 die offizielle Wetterprognose zum Rennen bei der Pressekonferenz und Fahrerbesprechung moderiert hatte, wurde ich nun als „Wetterfee“ über die Bedingungen während des Rennens befragt.
Wetter-Resümee
Nachdem die Wetterbedingungen 2018 mit nass-kalter Witterung zu den wohl härtesten gehört hatten, war es 2019 für die schnelleren Fahrer nahezu perfekt. Der Start war niederschlagsfrei mit trockenen Straßen bei kühlen, aber kalten Temperaturen. Gleichzeitig war die Luftfeuchtigkeit in Tirol angenehm gering. Im Tagesverlauf kletterten die Werte über 20 Grad in den Niederungen und selbst auf den Pässen und Abfahrten musste man zunächst nicht frieren. Allein, wer etwas länger unterwegs war, hatte sich mit aufziehenden Gewittern abzufinden und hoffentlich mit passender Kleidung vorgesorgt. Es bleibt anzumerken, dass auch etwas Glück im Spiel war bzw. der Wettergott auf der Seite der Radfahrer stand, denn bereits am Tag nach dem Rennen gab es einen Kaltlufteinbruch mit Dauerregen, sowie Schneefall in den oberen Lagen.
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