Ötztaler Radmarathon 2023

Wie viele Kilometer und Höhenmeter sollte man für den Ötztaler Radmarathon seit Jahresbeginn in den Beinen haben? Die Antwort auf diese Frage muss wohl für jeden Radfahrer individuell beantwortet werden. Kann man ohne spezifisches Training einen Ötztaler finishen? Ist eine Teilnahme ohne Höhenmeter und harte Intervalle möglich bzw. sinnvoll? Kann man am Ötztaler Radmarathon teilnehmen, wenn jemanden aus beruflichen oder familiären Gründen die Zeit für lange Ausfahrten fehlt? Reichen kurze aber regelmäßige Fahrten im Alltag aus? Meine persönliche Antwort: DEFINITIV JA. Als junge Mama konnte ich sogar meine persönliche Bestzeit bei meinem 5. Ötztaler Radmarathon erreichen.

Alles neue macht der Mai? Nein! Dieses Jahr ist es der Juli, der etwas Neues bringt, zumindest was den Ötztaler Radmarathon betrifft. Austragungstermin des Rennens war in diesem Jahr der 9. Juli und damit fast 2 Monate früher als sonst üblich. Juli bedeutet eine höhere Wahrscheinlichkeit für warmes bzw. heißes Sommerwetter. Nachdem man die vergangenen Jahre bei den Austragungen knapp am Schneefall vorbeischrammte, war die Schneefallwahrscheinlichkeit dieses Jahr gleich Null. Wie man dieses Jahr erleben durfte, ist Hitze aber nicht zwingend besser. Die Spitzentemperaturen lagen dieses Jahr sowohl in St. Leonhard im Passeiertal als auch in Sterzing und Innsbruck oberhalb der 30 Grad Marke. Bei der Auffahrt am Timmelsjoch hätte man auf dem Radhelm Spiegeleier braten können. Der Ötztaler Radmarathon 2023 war eine regelrechte Hitzeschlacht und jeder Finisher ein Sieger! Hart, Härter, Ötztaler!

Willkommen in der Hölle

Um Haaresbreite wäre mein Traum vom Ötztaler bereits kurz nach dem Start beendet gewesen. Die Abfahrt von Sölden nach Ötz ist mein Angstgegner. Und das zurecht, wie sich dieses Jahr deutlich zeigte. Im Gegensatz zu anderen Radmarathons, bei denen es zu Rennbeginn oft zu Stau und Stop-und-Go-Phasen kommt, stellt die eher seichte Abfahrt zusammen mit einem fliegenden Start beim Ötztaler Radmarathon sicher, dass sich das dicht gedrängte Fahrerfeld nach dem Startschuss mit tausenden von Teilnehmern auseinanderzieht. Dennoch ist dieser Streckenabschnitt unfallträchtig. Ich fahre hier generell passiv. Ein paar Kilometer von Sölden passierte es. Ich fahre am äußeren Rand der Fahrbahn. Ein männlicher Teilnehmer versucht mich links zu überholen und touchiert mich dabei. Ich schwanke stark, kann aber das Gleichgewicht halten. Der Fahrer schimpft und schüttelt den Kopf. Er sieht den Fehler offensichtlich bei mir und wird im nächsten Rennen wieder versuchen andere knapp zu überholen, auch wenn eigentlich keine Straße mehr am Rand übrig ist, um darauf zu fahren, geschweige denn zu Überholen. Ich hatte Glück. Andere hatten es dieses Jahr nicht. Normalerweise ist man in der Abfahrt nach Ötz nie alleine. Dieses Jahr herrschte jedoch plötzlich um mich herum gähnende Leere. Eine unruhig fahrende Gruppe lies ich ziehen und dann kam von hinten nichts mehr. Wie konnte das sein? Der Nachschub an Fahrern, die versuchen den Ötztaler in dieser ersten Abfahrt zu gewinnen ist für gewöhnlich gefühlt unendlich. Ich blicke mich um. Soweit mein Auge reicht, ist kein Radfahrer zu sehen. Was war passiert? Ich vermutete einen Unfall. Wie sich später herausstellte, lag ich mit meiner Vermutung richtig: Ein Fahrer, der versuchte ein Selfie von sich zu machen, löste einen Crash aus, in den mehrere Fahrer verwickelt wurden. Auch hierfür fehlt mir jedes Verständnis für das Verhalten des Fahrers. Ich machte das beste aus meiner „Pause“ und aß einen Riegel, da ich dieses Jahr nicht wirklich frühstücken konnte. Aber auch der Riegel bekam mir nicht. Ein brennendes Gefühl breitete sich in meiner Magengegend aus, das mich bis zum Ende begleiten sollte. Und plötzlich waren sie wieder da: die Fahrer die von hinten an mir vorbeischossen. Das Kühtai erklomm ich dieses Jahr in meiner persönlichen Bestzeit. Am Brenner war ich dieses Jahr bis zum Stubaital ohne Wind-Schutz einer Gruppe unterwegs. Zwar war ich nicht alleine, aber ich fuhr im Wind und hinter mir eine Handvoll Männer von denen einer sagte, dass er Körner sparen müsse. Das müssen am Brenner alle! Wenn jedoch jeder Fahrer versucht der Führungsposition auszuweichen, dann gibt es keine Gruppe. Ich dosierte meine Energie und blieb im unteren GA2- Bereich. Den Brenner erreichte ich nach einer kurzen Pause des Auftankens nach gut 4 Stunden. Bis zum Beginn des Jaufenpasses deutete alles auf eine für mich hervorragende Zeit von rund 9 Stunden hin, da ich den zweiten Teil des Rennens in der Vergangenheit bereits in 5 Stunden absolviert hatte. Aber es kam – wie so oft – anders. Die Hitze schlug erbarmungslos zu. Ich hatte unterschätzt wie viel Flüssigkeit ich bereits in der ersten Rennphase verloren hatte. Bis Sterzing empfand ich die sommerlichen Temperaturen als angenehm. Bereits vom Kühtai konnte ich lediglich im Trikot – ohne Jacke oder Weste – abfahren, so warm war es. Im Gipfelbereich des Jaufenpasses war ich bereits extrem durstig und dankbar über das Wasser, dass mir dort gereicht wurde (DANKE Frank!). Um die Mittagszeit lagen die Temperaturen noch bei verhältnismäßig erträglichen 27 bis 28 Grad. Die schnellen Fahrer hatten somit einen leichten Vorteil. Alle die langsamer unterwegs waren erschlug die Hitzekeule. Bis etwa 15 Uhr kletterte das Thermometer. Meine nachfolgende Analyse der Höchstwerte offizieller Messstationen zeigten 36 Grad in Meran und selbst im höher gelegenen Passeiertal am Fuße des Timmelsjochs noch 31 Grad in St. Martin. Mit Sonneneinstrahlung und der Hitzestrahlung von Teer und glühenden Felswänden waren die Temperaturen für die Fahrer jedoch deutlich höher. Mein Fahrradcomputer zeigte 38 Grad an. Dabei war es nahezu windstill. 7 Stunden nach dem Start sah ich die ersten starken Fahrer vom Fahrrad steigen. Ich suchte in der Auffahrt jedes bisschen Schatten, der sich mir bot. Jeder Fahrer war klitschnass geschwitzt. Auf einigen Fahrern zeichnete die Anstrengung mit Salz ihre Spuren. Ich merkte, dass meine Gedanken diffus wurden. Mich erfasste leichter Schwindel. Schnell wurde mir klar, dass ich bereits dehydriert und das Timmelsjoch noch lang war. Willkommen im Feuer der Hölle. Meine Geschwindigkeit drosselte ich. Nur ein Satz hatte Platz in meinem Kopf: „ist das heiß!“ Ich wollte nur noch ins Ziel. Dann kroch ein Gedanke heran: „das mache ich nie wieder, das war mein letzter Ötztaler.“ Doch ich lachte fast zeitgleich und verwarf ihn. „Wie dumm von mir. Das sage sie alle und stehen im nächsten Jahr wieder am Start“. Im obersten Teil des Passes auf über 2000 Meter wurde es kühler. Ich sah auf die Uhr und mir wurde klar, dass eine persönliche Bestzeit noch erreichbar war. Das allerdings nur, wenn ich einen Zahn zulegte. Ab diesem Zeitpunkt gab ich alles, was noch möglich war. Keine Worte können beschreiben wie hart die letzten Minuten des Rennens waren. Die Anstrengung hatte sich aber gelohnt: ich konnte meinen schnellsten Ötztaler ins Ziel bringen: 9:21 Stunden, Platz 25 gesamt und Platz 14 in meiner Altersklasse.

Als junge Mama zur Bestzeit

Wie war Bestzeit für mich möglich? Als junge Mama fehlte die Zeit für lange Touren. Meine längste Trainingsfahrt am Stück dauert 3 Stunden. Schwer gebeutelt durch COVID-19 war meine Vorbereitung eingeschränkt gewesen. Das Trainingslager musste ausfallen. Das Training fand im Flachen auf der Rolle und der heimischen Münchner Schotterebene statt. Meine letzte Passfahrt lag fast ein Jahr zurück: die Passfahrt vom Timmelsjoch beim Ötztaler 2022. Da ich seit fast zwei Jahren keine einzige ruhige Nacht hatte, war meine Regeneration stark eingeschränkt und Müdigkeit mein täglicher Begleiter. Intervalle oberhalb der Schwelle machte ich kein einziges Mal, da die Zeit zur Erholung viele Tage in Anspruch genommen und mein Grundlagentraining gestört hätte. Tatsächlich behindern bereits wenige harte Antritte während Grundlagenfahrten – wie zum Beispiel über Autobahnbrücken – die positive Entwicklung beim Laktat- und Fettstoffwechsel. Ich versuchte meinen wenigen Schlaf so optimal wie möglich zu gestalten. Meinen Fettstoffwechsel und den Laktatabbau trainierte ich durch gelegentliches Training in nüchternem Zustand bzw. mit exogenen Ketonen. Ab und an gab es auch zwei kurze Radfahrten an einem Tag, die ebenfalls in diese Richtung wirken. Eine zentrale Rolle für die Regeneration spielt die Ernährung. Um Wachstum bzw. Reparatur im Körper und besonders in der Muskulatur anzustoßen, müssen die katabolen (abbauenden) Effekte, welche durch Sport und/oder Energiemangel hervorgerufen werden unterbrochen werden. Das stärkste anabole (aufbauende) Hormon in unserem Körper ist das Insulin. Insulin wirkt stärker als zum Beispiel Testosteron. Insulin wird durch die Zufuhr von Nahrung mit Protein und insbesondere Kohlenhydrate ausgeschüttet. Eine Low-Carb-Ernährung mit wenigen Kohlenhydraten ist besonders nach dem Training kontraproduktiv für eine Leistungssteigerung. Schnell verfügbare Kohlenhydrate im Anschluss an den Sport sind hingegen hilfreich. Durch die gezielte Einnahme bestimmter Aminosäuren können im Muskel Wachstumsprozesse zusätzlich zum Insulin angestoßen werden. Aber auch ohne Insulinwirkung bewirken sie Wachstum im Muskelgewebe. Durch eine Kombination dieser Faktoren, konnte ich meine Form steigern. Mein persönliches Ziel, unter neun Stunden zu fahren (was einer Zeit bei Männern unter 8 Stunden entspricht!) konnte ich nicht erreichen. Es ist also noch eine Rechnung offen! 2024 findet der Ötztaler Radmarathon wieder Anfang September statt. Dann wahrscheinlich ohne große Hitze und hoffentlich ohne Schnee.

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