Tabu-Thema im Radsport: Essstörungen

In vielen Sportarten überwiegen die Vorteile eines geringen Körpergewichts. Leichte Skispringer fliegen weiter. Bei Sportarten mit Gewichtsklassen (Boxen, Gewichtheben, Judo, Leichtgewichtsrudern, Ringen und andere) ist das Körpergewicht zentraler Bestandteil und mitunter phasenweise wichtiger als das Training. Darüber hinaus kann durch Gewichtsabnahme („Gewichtmachen“) ein Vorteil erzielt werden, wenn man in der nächstniedrigen Gewichtsklasse gegen relativ schwächere Gegner antritt. Im Reitsport belastet ein Springreiter sein Pferd weniger. Ein leichter Jockey lässt das Pferd schneller laufen. Ein Reiter in der Renndisziplin darf nicht mehr als 55 Kilogramm wiegen. Bei gleicher Leistung im Gewichtheben gewinnt der leichtere Sportler. In Sportarten mit ästhetischen Anspruch gibt es für schlanke Körper mitunter sogar bessere Noten von den Wettkampfrichtern. Im Ausdauersport wie Triathlon, Laufen und Radsport sind die Chancen im Wettkampf mit geringerem Gewicht ebenfalls höher.

Kampf gegen das eigene Körpergewicht

Im Radsport gibt es zwar keine Gewichtsklassen, aber auch hier kommt dem Verhältnis von Kraft zu Gewicht eine besondere Bedeutung zu. Ähnlich wie z.B. im Kampfsport haben größere Athleten ein höheres Kraft- bzw. Leistungspotential. Im Kampfsport oder beim Gewichtheben wird der Vorteil größere Lungen, einem mehr an Muskulatur oder längeren Gliedmaßen etc. durch das Einführen von Gewichtsklassen teilweise limitiert. Sportler sind hier versucht durch Reduktion des Körpergewichts in die nächst-niedrigere Gewichtsklasse zu rutschen, wo sie dann den oft kleineren Konkurrenten überlegen sind. Das offizielle Wiegen vor dem Wettkampf wird dann zum eigentlichen Wettkampf: Dem Kampf gegen das eigene Körpergewicht. Nicht selten werden ungesunde Methoden angewandt, um das Körpergewicht unmittelbar vor dem Gang auf die offizielle Waage zu minimieren. Gängiges Mittel ist das Entwässern u.a. mit Diuretika auch wenn diese meist auf der Verbotsliste der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA zu finden sind. Nebenwirkungen durch Wasser- und Elektrolytausscheidung wie Muskelkrämpfe oder Herzrhythmusstörungen werden in Kauf genommen. Für Radfahrer kommen Diuretika zur Leistungssteigerung nicht in Frage. Gewichtsklassen sind im Radsport nicht gegeben. Je nach Disziplin spielt das Gewicht eine mehr oder weniger wichtige Rolle. Dennoch ist weniger meist mehr. Am wenigsten wichtig ist das Körpergewicht im Bahnradsport. In der Beschleunigungsphase bremst zusätzliches Gewicht. Ist eine gewisse konstante Geschwindigkeit auf ebenem Untergrund erreicht, zählt bei Vernachlässigung von Reibung und Luftwiderstand nur noch Kraft bzw. Leistung des Fahrers. Ansonsten profitieren Radfahrer bereits in hügeligem Gelände deutlich von geringerem Körpergewicht. Für Bergfahrer ist geringes Gewicht unabdingbar. Reduktion des Körperfetts ist hier das Mittel der Wahl. Ein Gewichtsverlust geht immer mit einem mehr oder weniger hohen Verlust an sogenannter „Magermasse“ (lean mass) einher. Der Hauptanteil des Gewichts der Magermasse kommt – bei Vernachlässigung von Wasser – von der Muskulatur. Auch wenn durch gezieltes Training während der Gewichtsreduktion ein Verlust der beim Radsport benötigten Muskulatur, insbesondere in den Beinen, erhalten bleibt, so reduziert sich die Muskelmasse an anderen Körperstellen. Dies scheint zunächst sogar von Vorteil für den Radsportler zu sein. Muskulatur bedeutet immer auch ein Mehr an Körpergewicht, was ja unerwünscht ist. So haben die meisten Radprofis auffällig schmale Oberarme und Oberkörper. Umfangreiches Training der Arme und des Oberkörpers sind bei Rennradfahrern tabu. Lediglich Sprinter können in geringem Umfang noch von Muskelkraft in diesen Bereichen profitieren. Die geringe Muskulatur oberhalb der Gürtellinie hat aber auch negative Auswirkungen. Eine starke Rückenmuskulatur beugt Schmerzen vor allem in diesem Bereich vor und korriliert mit ausgebildeter Bauchmuskulatur. Ein starker Rumpf und generell ausgeprägte Muskulatur federt insbesondere bei Stürzen und beugt schlimmeren Verletzungen, auch im Schulterbereich, vor.

Die Skelettmuskulatur ist das größte Organ unseres Körpers. Sie mach durchschnittlich 35 Prozent unseres Körpergewichts aus. Unser Körper besitzt über 600 Skelettmuskeln. Das Wort Skelettmuskulatur beinhaltet alle Muskeln, die aktiv mit unserem Bewusstsein und Willen bewegt werden können. Ein Großteil der Skelettmuskulatur ist – wie der Name vermuten lässt – mit dem Skelett verbunden, wie die Arm- und Beinmuskulatur. Bei Bewegung und Kontraktion schütten unsere Muskeln hormonähnliche Botenstoffe aus, die Myokine. Bisher wurden einige hundert Arten identifiziert, die jedoch noch nicht vollständig erforscht sind. Von der Muskulatur gelangen die Myokine über die Blutbahn in andere Teile des Körpers. Die Myokine zählen zu den Peptid-/Proteohormonen und sind demnach spezielle Proteine, die Hormonfunktionen ausüben. Sie fungieren als Botenstoffe und lassen die Muskeln mit anderen Körperteilen kommunizieren. Nicht nur dass man festgestellt hat, dass durch Bewegung und den damit ausgeschütteten Myokinen akut bestehende Erkrankungen eine Besserung aufweisen, auch zur Vorbeugung sind Myokine durchaus effektiv. Übergewicht und Diabetes können z.B. durch eine erhöhte Insulinsensitivität verhindert werden. Bei Anstieg des Blutzuckers reicht eine geringe Menge an Insulin aus, um den überschüssigen Zucker in Zellen zu schleusen. Gleichzeitig wird der Fettstoffwechsel erhöht indem der Fettabbau (Lipolyse) des Fettgewebes anregt wird. Das ordinäre weiße Körperfett kann mit Hilfe der Myokine „gebräunt“ werden. Weißes Fett wird mit Mitochondrien angereichert und damit dem ursprünglichen braunen Fettgewebe ähnlicher, welches Fett zur Wärmeproduktion verfeuert. Myokine schützen nicht nur vor Fettleibigkeit und Diabetes sondern auch vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen und dem metabolischem Syndrom. Einige Myokine sind in der Lage das Fortschreiten von Krebs sowie einer mit Krebs verbundenen Kachexie einzuschränken. Krebszellen verstecken sich vor unser Immunsystem. Sie tarnen sich quasi, so dass unsere Immunzellen die fehlerhaften Krebszellen nicht bekämpfen bzw. beseitigen. Bestimmte Myokine, insbesondere das Interleukin-6, lotsen die Immunzellen zum Tumor, so dass sie den Krebs angreifen. Darüber hinaus regt das Interleukin-6 die Bildung neuer Abwehrzellen an und wirkt entzündungshemmend. Entzündungen spielen nicht nur bei Krebs, sondern auch bei psychischen Krankheiten oder weiteren chronischen Erkrankungen eine förderliche Rolle. So können Myokine bei Depression oder Rheuma heilsam sein. Mit fortschreitendem Alter leiden viele Menschen an Sarkopenie und Osteopenie bzw. Osteoporose. Sarkopenie ist durch zunehmenden Abbau von Muskelkraft und Muskelmasse im Alter gekennzeichnet. Gleichzeitig leiden viele an verminderter Knochendichte (Osteopenie), was oft in der Erkrankung Osteoporose – auch Knochenschwund genannt – mündet. Mit den Bewegungseinschränkungen kommt es zu einer Häufung von Stürzen. Schwere Verletzungen und Knochenbrüche können die Folge sein. Früher dachte man, dass Bewegung ausschließlich durch mechanischen Reiz vor Osteoporose schützt. Mittlerweile wurde ein ganzer Cocktail an Myokinen identifiziert, die durch Muskelkontraktion ausgeschüttet werden, die nicht nur für eine verbesserte Knochendichte und Knochenstabilität sorgen, sondern sogar die Neubildung von Knochen anregen. Gleichzeitig wird die Bildung neuer Muskelmasse verstärkt. Daher gilt: mehr Muskulatur ist besser. Dem Thema Osteopenie als Gefahr für Radsportler habe ich einen eigenen Artikel gewidmet (hier). Grenzwertig niedriges Körpergewicht findet sich vor allem bei Touren-Radfahrern und speziell bei Bergspezialisten im Rennrad-Sport. Letztere haben – neben der Fähigkeit eine relativ hohe Dauerleistung erbringen zu können – ein extrem niedriges Gesamtgewicht. Bei Radfahrten im Gelände, wie mit dem Mountainbike oder Cyclocrosssport, wird die Stützmuskulatur zusätzlich beansprucht. Schnelle, kurze und harte Antritten sind gefragt und stellen wie im Sprint eine völlig andere Anforderung an die Muskulatur. Hierbei übernehmen unterschiedliche Muskeltypen die Regie. Studien zeigen, dass Mountainbiker weniger gefährdet sind Osteopenie zu entwickeln als Rennradfahrer.

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Der BMI (Body-Mass-Index) als Maß?

Wie viel Körpergewicht ist zu viel bzw. zu wenig? Mittlerweile hat sich als Maß für das ideale Gewicht der Bodymassindex BMI verbreitet. Der BMI setzt das Körpergewicht und die Körpergröße zusammen in Beziehung. Definitionsgemäß ergibt sich der BMI aus der Körpermasse in Kilogramm [kg] im Verhältnis zum Quadrat der Körperlänge in Quadratmetern [m²]. So ergeben sich für den BMI Zahlen von 16 bis 40 in [kg/m²]. Bei geringeren oder höheren Werten ist das Leben der Personen mit solchen Zahlen akut bedroht. Normalgewicht ergibt sich für Erwachsene bei Werten von 18,5 bis 25. Allerdings sagt der BMI als Zahl damit zunächst nichts über das Geschlecht, das Alter oder die Statur eines Menschen aus, die aber eine Auswirkung auf das Gewicht haben. Männer wiegen selbst bei gleicher Größe meist mehr als Frauen, da ihre Körper eine andere Zusammensetzung haben. Daher werden die Zahlen des BMI, unter anderem von der Deutsche Gesellschaft für Ernährung DGE, zur Interpretation nach Geschlecht eingeordnet. Für Geschlecht und Alter gibt es spezielle Tabellen, die bei der Einordnung der BMI-Zahlen helfen sollen. Je muskulöser ein Mensch ist, desto höher ist sein Gewicht. Muskeln besitzen ein höheres spezifisches Gewicht als z.B. Körperfett. Und hier schnappt die Falle bei Sportlern zu. Sportler haben mehr Muskulatur als Durchschnittsbürger. Selbst bei sehr geringem Körperfett treibt das Mehr an Muskulatur den BMI nach oben. Kraftsportler landen dann nicht selten im oberen Bereich oder sogar im Bereich des Übergewichts. Bei krankhaft mageren Sportlern kann Muskulatur zu einem normalen BMI beitragen und das physiologische Untergewicht maskieren. Körperfett ist prinzipiell nicht schädlich, sofern es keine krankhaften adipösen Ausmaße annimmt. Ein zu geringer Körperfettanteil führt auf Dauer zu gesundheitlichen Komplikationen und Erkrankungen. Auch wenn der Körperfettanteil noch in normalem Rahmen ist, kann es in der Phase einer Gewichtsabnahme durch Energie- und/oder Vitamin- bzw. Mineralstoffmangel zu Schädigungen kommen.

Zeigt sich ein gestörtes Essverhalten und wird dabei chronisch wenig Energie zugeführt, spricht man von der Anorexia athletica. Anorexia ist der medizinische Begriff für eine Magersucht. Der Zusatz athletica ordnet diese Form der Magersucht der speziellen Personengruppe Sportler*innen zu. Besonders bei Männern bleibt dies zunächst und länger unbemerkt. Frauen in gebärfähigem Alter leiden bei Energiemangel hingegen oft an Zyklusstörungen wie großen Abständen zwischen den Blutungen (Oligomenorrhoe) oder Ausbleiben der Monatsblutung (Amenorrhoe). Neben unregelmäßig oder fehlender Periode tritt eine Störung des Knochenstoffwechsels mit Gefahr der verringerten Knochendichte (Osteopenie) bzw. Osteoporose auf. So entstand für das krankhafte Untergewicht zunächst der Begriff der weiblichen Triade (Female Athlete Triad) mit einem umfangreichen Krankheitsbild. Mittlerweile wurde die Erkrankung auch um männliche Sportler erweitert. Man spricht in Fachkreisen vom relativen Energiedefizit im Sport, dem Relative Energy Deficiency in Sports (RED-S). Der Begriff bringt zum Ausdruck, dass nicht zwingend ein absolutes Energiedefizit vorliegen muss, damit es zu Erkrankungen kommt. Sowohl der Körperfettanteil als auch die Energiezufuhr können scheinbar ausreichend hoch sein. In der Realität erhält der Körper zu wenig Energie und einige Stoffwechselvorgänge werden – anfangs unbemerkt – gedrosselt oder ausgeschaltet, um Energie zu sparen. Sportler benötigen durch den verringerten Stoffwechsel weniger Energie. Sie halten dann ihr geringes Körpergewicht und essen scheinbar ausreichend, da keine weitere Gewichtsabnahme erfolgt. Ignoriert wird dabei, dass bereits wichtige Körperfunktionen reduziert oder eingestellt sind. Die andere Gruppe mit RED-S sind Athleten, die zeitweise extrem wenig Energie zuführen und dies später wieder kompensieren, so dass das Körpergewicht stagniert oder sogar steigt. Das ist Stress für den Körper und der Cortisolspiegel ist erhöht. Optisch wirken die Sportler mitunter gesund. Besonders junge Sportler haben mit einer Reduktion der Energiezufuhr und einhergehendem Gewichtsverlust in ihrer Sportlerkarriere anfangs durchaus Erfolge, bevor schließlich eine Abwärtsspirale einsetzt. Unerklärliche Verdauungsbeschwerden treten gerne zu Beginn auf und verführen Sportler dazu die Nahrungsaufnahme weiter zu begrenzen. Die Verletzungs- und Infekt­anfälligkeit nimmt schleichend zu. Schlafprobleme und psychische Sympthome wie depressive Verstimmung können auftauchen. Der Hormonhaushalt wird gestört. Bei Männern kann die Testosteronproduktion sinken. Männliche Sportler gewinnen einer folgenden Testosterontherapie mit ärztlicher Verschreibung des Hormons sogar irrtümlich positive Aspekte ab, da sie sich eine leistungssteigernde Wirkung versprechen. Hier ist Vorsicht geboten! Testosteron zuzuführen ohne dass ein Mangel besteht, senkt mittelfristig die körpereigene Produktion. Der gemessene Testosteronspiegel bildet nicht zwingend den ganzen Testosteronstatus ab. Testosteron unterliegt einem Tagesrhythmus und hängt unmittelbar mit der Länge sowie Qualität des Schlafes zusammen. Freies Testosteron wird medizinisch nicht gemessen sondern geschätzt.

Was aber tun wenn geringes Körpergewicht zum Sieg führt auch wenn es langfristig den Körper schädigt? Ähnlich wie es eine immer währende Diskussion um den schädlichen Einfluss von Dopingmitteln gibt, entwickelt sich mittlerweile ein Bewusstsein für das Problem des RED-S. In einigen Sportarten gibt es mittlerweile Regularien, die vor einem krankhaften Untergewicht schützen sollen. Im Skiweitsprung muss ein Sportler laut Regeln des Ski-Weltverband FIS mindestens einen BMI von 21 besitzen, um die volle Skilänge von 145 Prozent der Körpergröße nutzen zu dürfen. Wer leichter ist, muss mit kürzeren Ski an den Start gehen. Ähnliches Vorgehen wäre auch im Radsport denkbar. Wer zu leicht ist, bekommt z.B. zusätzliches Gewicht ans Rad „geschraubt“. Noch wird Untergewicht toleriert – zum Schaden der Athleten. Mit wachsendem Bewusstsein in den Sportverbänden und bei den Athleten selbst, wird krankhaftem Gewicht hoffentlich auch bald im Radsport ein Riegel vorgeschoben.

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Literatur

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